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Estlands digitale Strategien im Kampf gegen das Coronavirus

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Publiziert am 21.07.2020 MESZ

 

Ein kleines Land mit hoher Digital-Kompetenz hält die Pandemie in Schach

Estland ist stolz auf sein digitalisiertes Verwaltungssystem. Und noch mehr auf seinen pragmatischen Umgang mit der Digitalisierung. Als wär es das Selbstverständlichste, starteten die Esten während der Corona-Krise einen staatlich geförderten Hackathon. «HACK THE CRISIS» ist ein Musterbeispiel dafür, wie ein digitaler Staat auf Start-ups setzen kann.

 

Nahaufnahme einer mittelalterlichen Pforte. Sie ist in einem rot-weissen Zick-Zack-Muster bemalt und aufwändig mit Nägeln beschlagen.


Die mittelalterlichen Fassaden täuschen: Tallinn ist eine High-Tech-Stadt, in der die Programmierer Estlands eigene Apps gegen die Coronavirus-Krise entwickeln. © Getty

  

  

Von
Morgan Meaker,

Journalistin unter anderem für WIRED, BBC News und The Guardian.

Ihre Recherche veröffentlichen wir hier als Teil unserer Publishing Partnership mit Wired UK.

Als Violaine Champetier de Ribes zum ersten Mal Estland besuchte – bekannt als eines der digital fortschrittlichsten Länder der Welt –, rechnete sie damit, in eine futuristische Stadt einzutauchen. «Man erwartet ein Raumschiff und stattdessen entdeckt man in der Hauptstadt Tallinn eine mittelalterliche Altstadt wie bei Game of Thrones.» Dreissig Reisen in dieses Land später stellt die französische Schriftstellerin fest, dass Estlands Technologisierung weitgehend unsichtbar geblieben ist – zusätzlich verdeckt durch die altertümlichen Fassaden der Städte.

Das von ihr mitverfasste Buch «The Full Digital Nation» zeichnet die Entwicklung nach, wie es das ehemalige sowjetische Land geschafft hat, eine voll funktionierende Online-Bürokratie zu etablieren. Selbst in den frühen Tagen seiner Unabhängigkeit, in denen das Geld knapp war. Doch jetzt, da sich Länder auf der ganzen Welt der digitalen Technologie zuwenden, um die Ausbreitung von Covid-19 einzudämmen und das öffentliche Leben zu regulieren, schwebt über Estland die eine Frage:

Ist eine digitale Nation besser gerüstet, um die Ausbreitung einer Pandemie zu stoppen?

Die Zahl der Corona-Fälle liegt in Estland etwa auf demselben Niveau wie bei seinen Nachbarn. Den ersten Todesfall verzeichnete das Land am 25. März. Drei Monate später liegt die Zahl der Covid-19-Todesopfer immer noch unter 70. Nach Angaben der Johns-Hopkins-Universität ist die Infektionszahl mit knapp 2.000 etwas höher als in den Nachbarländern Lettland und Litauen.

Schon einen Tag nach dem Ausnahmezustand fand ein Hackathon statt

Um das Virus zu bekämpfen, hat Estland die bekannten Methoden eingesetzt: Abriegelung, Tests, höhere Kapazitäten in den Intensivstationen und Nachverfolgung menschlicher Kontakte. Aber viele Menschen in Estlands Technologie-Gemeinschaft sind auch stolz darauf, wie lokale Start-ups dabei zum Zug kamen. Am 12. März rief Premierminister Jüri Ratas den Ausnahmezustand aus. Am nächsten Tag hatte eine Firma namens Garage48 einen staatlich geförderten virtuellen Hackathon namens «Hack the Crisis» gestartet.

Ingrid Rooda, die für Estlands Gesundheitsbehörde arbeitet, ist eine Staatsbeamtin, die während der zweitägigen Veranstaltung die Fragen der Entwickler beantwortete. Sie beschreibt die Atmosphäre als dynamisch und kompetitiv. Und sie weist auf drei «digitale Lösungen» hin, die in der Folge entstanden sind: die Online-Informationsdrehscheibe KoroonaKaart, den Selbsteinschätzungs-Fragebogen Korooonatest und den nationalen Chatbot SUVE, der Notfall-Fragen auf Estnisch und Englisch beantwortet.

Die estnischen Hackathons waren ein Musterbeispiel.

Die estnischen Hackathons zeigen, wie ein digitaler Staat bei einer Pandemie die Führung übernehmen kann. Und doch war keines der Instrumente, die in diesen Sitzungen entwickelt wurden, besonders radikal oder einzigartig.

  • Chatbots
  • Infektionskarten
  • Fragebögen zur Selbsteinschätzung


All das gibt es in Ländern auf der ganzen Welt, auch in solchen, die digital nicht so weit entwickelt sind. Bulgarien zum Beispiel, das zu den Ländern mit der niedrigsten Konnektivität in der EU zählt, hat seine eigene Selbstbewertungs-App namens ViruSafe.

Irja Lutsar, eine Virologie-Professorin, die im März zur Leiterin des wissenschaftlichen Beirats für Coronaviren der estnischen Regierung ernannt wurde, erwähnt keine «digitalen Lösungen», wenn sie darüber spricht, wie das Land seine Infektionsraten niedrig gehalten hat. Stattdessen schreibt sie es einer Mischung aus Vertrauen in die Regierung und sozialem Druck zu, die dazu geführt haben, dass sich die Menschen an die Verfügungen gehalten hätten.

Ein kleines Land mit hoher Digital-Kompetenz

«Wir sind ein kleines Land. Die Menschen kennen sich», erklärt sie. «Wenn wir Ausbrüche in kleinen Gemeinden hatten, mussten viele Menschen isoliert zu Hause bleiben. Wenn die dann in den Laden gingen, sagte sofort jemand: Du solltest nicht hier sein, sondern in Quarantäne.»

Der ehemalige estnische Minister für Informationstechnologie, Kaimar Karu, der im April nach einem Streit mit seiner Partei entlassen wurde, bekräftigt, dass diese sogenannten «digitalen Lösungen» normalerweise das sind, worüber Journalisten sprechen wollen, aber seiner Meinung nach haben sie zu viel Anerkennung erhalten. «Ich finde nicht, dass jeder Chatbot eine grosse Leistung ist», sagt er. «Es ist einfach nur vernünftig, ihn zu nutzen.»

Wie das Land selbst scheint auch die Reaktion Estlands auf das Coronavirus sehr unaufgeregt. Man hat lediglich seine digitalen Fähigkeiten an die Bürokratie des Landes angepasst. Die beste Antwort eines Landes auf die Pandemie ist ein funktionierendes Informationssystem, das es den medizinischen Diensten und der Verwaltung ermöglicht, Covid-19-Patientendaten in Echtzeit auszutauschen und zu empfangen.

Nie mehr Daten doppelt erfassen

Die Politik der «Einmaligkeit» dieses Landes bedeutet, dass Bürgerinnen und Bürger eine Information nie zweimal in ein Regierungssystem eingeben müssen. Wenn sie bei der Beantragung eines Führerscheins ihr Geburtsdatum eintragen, sollten sie es bei der Beantragung eines Darlehens nicht noch einmal tun müssen. Folglich müssen die verschiedenen Regierungsbehörden Daten miteinander austauschen, wozu ein hoch-sicheres Systems namens X-Road entwickelt wurde (Erklärvideo auf YouTube).

Dieses Prinzip des Datenaustausches wurde im Kampf gegen das Coronavirus ausgeweitet. Erkki Karo von der Technischen Universität Tallinn beschreibt, wie das neue System lediglich eine Aktualisierung des bestehenden «Gesundheitsinformationssystems» erforderte, das die Ärzte bereits für den Austausch von Krankenakten von Patienten nutzten. Laut Rooda ermöglicht es diese Plattform den Politikern, sich mit täglichen Statistiken über neu diagnostizierte Fälle auf dem Laufenden zu halten. «Sobald das Labor die Ergebnisse eingibt oder nachdem ein Arzt eine Diagnose stellt, können die Kontaktverfolger auf diese Informationen zugreifen und mit den betroffenen Menschen in Kontakt treten», sagt sie.

Verglichen mit den digitalen Lösungen, mit denen sich Estland sich auf seiner Website «E-Estonia» rühmt, ist es fast beschämend, dass es ein simples Datenaustauschsystem war, das den Erfolg brachte. Aber die Esten wissen, dass das Geheimnis der Effizienz in Wirklichkeit eher profan ist. Als Lennart Meri, der erste Präsident des Landes, 2001 die Regierung an seinen Nachfolger übergab, beschrieb er seine zehnjährige Amtsperiode mit den Worten «Estland ist jetzt ein normales, langweiliges Land». Das gleiche Motto lässt sich auch auf das Gesundheitssystem anwenden, das der digitale Staat für den Datenaustausch genutzt hat.

In Estland geht fast alles digital (weiter)

Estlands digitale Strategie hat es ermöglicht, dass das Leben im Land weitgehend ungestört weiterlief. Der ehemalige Präsident Toomas Hendrik Ilves beschreibt Estland als krasses Gegenbeispiel zu Ländern, in denen die Bürokratie zum Stillstand kam. Er verweist zum Beispiel auf die USA, wo in Coronazeiten 1,7 Millionen Passanträge unbearbeitet liegenblieben.

«Weil wir so digitalisiert sind, wirkt sich die Pandemie nicht auf das Funktionieren der Verwaltung aus.»

Und Ilves verrät nicht ohne Stolz: «Bei uns läuft alles weiter wie bisher.» In Estland kann man alle Verwaltungsaktivitäten online regeln, ausser heiraten, sich scheiden lassen und eine Eigentumsübertragung vornehmen.

Märten Veskimäe, Analyst am Zentrum für IT-Auswirkungsstudien der Universität Tartu, sagt, dies sei einer der Hauptvorteile des digitalen Staates während dieser Pandemie gewesen. «Die Digitalisierung ist wichtig, wenn es um die Frage geht, was man während des Lockdowns tun kann», so Veskimäe. «Ich habe gehört, dass sich die Zahl der digitalen Unterschriften, die während der Abriegelung geleistet werden, in Estland verdoppelt hat, was ziemlich überraschend ist, wenn man bedenkt, dass es schon vorher weit verbreitet war, diese Werkzeuge zu nutzen.»

Die Technologie Estlands war durch die Reaktion auf das Virus zwar präsent, schien aber keineswegs dominant. Die Esten sind stolz auf ihren Pragmatismus und ihre Erfahrung mit der Digitalisierung. Sie wussten, dass ihr berühmter digitaler Staat bei dieser Pandemie nur eine unterstützende Rolle spielen konnte. «Es geht nicht allein um technische Lösungen», sagt Karo. «Stattdessen sind es die Innovationen in komplexen Verwaltungsabläufen. Und die benötigen politisch und kulturell oft viel mehr Zeit als ein gut organisierter Hackathon.»

 

  

 

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Erst die Pandemie, dann der Krieg: Sie brachten Fragen aufs Tapet, denen wir uns bislang nicht stellen mussten – oder stellen wollten. Dazu gehören auch Themen, die unsere ganz persönliche finanzielle Vorsorge und Sicherheit betreffen:

  

 

  

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